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Impuls 2024-06-23

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Tatsächlich Liebe

Es spielt ja eine große Rolle, ob wir in unserer Familie das älteste, mittlere oder jüngste Kind sind. Davon geprägt sind auch die Beziehungen zu unseren Geschwistern und Eltern. Das Gleichnis vom berühmten verlorenen Sohn ist ein Paradebeispiel dafür: der bemühte Vater, zwei sehr unterschiedliche Söhne und eine nicht erwähnte Mutter. Der Fokus landet bei der Geschichte oft direkt auf dem verlorenen Sohn, der das Erbe des Vaters verprasste und völlig mittellos und reumütig wieder Zuhause ankommt. Aber um ihn geht es mir heute nicht. Denn auch der große Bruder ist auf gewisse Art und Weise verloren, so wie er da abseits der Willkommensparty für den Bruder steht und den Vater anbrüllt.

All diejenigen von Ihnen, die die Erstgeborenen sind, können seine Gefühle vermutlich gut nachempfinden. Er ist derjenige, der seiner Pflicht nachkam, mit angepackt und den Vater unterstützt hat. Wie die Beziehung zu seinem Bruder noch vor dessen Weggang war, wissen wir nicht. Aber so wie ihm der Kragen platzt, als er von dem Fest für ihn hört, scheint sie ziemlich aufgeladen zu sein. Vorwürfe und Neid brechen aus ihm heraus. Er ist enttäuscht und verliert sich in seiner Wut gegenüber seinem Vater, seinem Bruder und wahrscheinlich auch sich selbst.

Hier muss jetzt die entscheidende Info her! Die Adressaten der Geschichte sind eigentlich die Pharisäer, die jüdischen Gelehrten damals. Sie sind mit den älteren Brüdern gemeint. Auch sie waren der Auffassung, dass sie ihr strikter Gehorsam gegenüber den Gesetzen zu Gott bringen würde. Auch sie wollen wie der ältere Bruder gesehen, geschätzt, geliebt werden. Sie, die doch alles richtig machen.
Doch Jesus stellt hier ihr gesamtes Gottesbild, ja ihre Lebensweise auf den Kopf. Es geht nicht darum, alles richtig zu machen. Im Gegenteil: Es geht darum anzuerkennen, dass wir alle Fehler machen und Vergebung brauchen und dass es Gott wichtig ist, dass wir in seiner Liebe frei leben.

Jesus geht es in der Geschichte also eigentlich um zwei verlorene Söhne. Das sehen wir auch im Verhalten des Vaters. Er geht auf beide Söhne zu und lädt sie zum Fest ein. Beide sind sie von ihm geliebt, ganz allumfassend. Es ist Gottes Liebe, die den beiden Söhnen begegnet, den Pharisäern und letztlich auch uns heute. Es ist eine Liebe, die verzeiht und die das Vergangene loslassen kann. So wie es der Lyriker Erich Fried schreibt: „Es ist, was es ist, sagt die Liebe.“

Pfarrerin Anna Grapentin