Über und unter den Wolken

„Über den Wolken muss die Freiheit wohl grenzenlos sein. Alle Ängste, alle Sorgen, sagt man, blieben darunter verborgen und dann würde, was uns groß und wichtig erscheint, plötzlich nichtig und klein.“ singt Reinhard Mey.
Das stimmt! ÜBER den Wolken, im Himmel ist die Freiheit grenzenlos. UNTER den Wolken hingegen, auf der Erde, unterliegt alles der Endlichkeit, ist vielfach begrenzt: Unser Leben, unsere Gesundheit, unsere Geduld, unsere Leidensfähigkeit, unser Verstand, unsere Bildung, unser Geld, unsere Notfallsysteme, unsere Kräfte – alles endlich! Daran ändert auch unsere hochtechnisierte Lebensweise nichts, wie wir gerade in Krisenzeiten erfahren.
Umso tröstlicher die Erkenntnis von Psalm 36,6: „Herr, DEINE Güte reicht, soweit der Himmel ist, und DEINE Wahrheit, soweit die Wolken gehen.“ ÜBER den Wolken relativiert sich alles, was uns hier unten auf Erden bedrängt, bedrückt, erregt… Grenzenlose Weite und unendliche Wahrheit herrscht dort, wo man gemeinhin die Wohnung Gottes postuliert: im Himmel. Doch das ist gut so, finde ich. Gott steht ÜBER unseren täglichen Streitereien und kleinlichen Rechthabereien, ÜBER unserem angeblich richtigen und angeblich falschen Tun. Seine Güte, seine Treue zu uns Menschen reicht weiter, als wir sehen können, ist das Einzige, was unendlich ist!
UNTER den Wolken hingegen herrscht Endlichkeit. Man mag das bedauern und beklagen, doch in vielen Fällen muss man es wohl akzeptieren und einen halbwegs guten Weg finden, damit umzugehen. Dazu gehört durchaus, dass man fast alles diskutieren darf (fair und sachlich, ohne sich gegenseitig zu diffamieren!). Gerade auch die virulente Frage, wie frei und wie begrenzt unser eigenes schutzbedürftiges Leben innerhalb einer schutzbedürftigen Gemeinschaft sein kann, gehört dazu.
Absolute Sicherheit und Klarheit werden wir jedoch nie erreichen, da unser Verstand, unsere Mittel und unsere Kräfte endlich sind. Ja, manches wird sich im Nachhinein als nicht ganz richtig herausstellen, manches als nicht ganz falsch. Doch auch die Zeit des Diskutierens ist endlich! Angesichts einer Notlage muss mit Mut entschieden werden – für denjenigen Weg, der die höchste Wahrscheinlichkeit zum Erfolg hat, selbst wenn das gewisse Risiken miteinschließt. Aus Angst die Dinge einfach nur laufen zu lassen, war noch nie ein guter Weg.
Vielleicht sollten wir öfter mal zum Himmel schauen und Psalm 36 beten: „Herr, DEINE Güte reicht, soweit der Himmel ist, und DEINE Wahrheit, soweit die Wolken gehen.“ Gerade weil es oft schwer ist, die eigene Endlichkeit und Begrenztheit zu akzeptieren und unter Einbeziehung möglichst vieler gesellschaftlicher Interessen möglichst vernunftgetrieben zu entscheiden; gerade weil wir uns viel zu oft in Freund-Feind-Denken verrennen. Umso wichtiger ist diese Zusage unserer Bibel: Gottes Treue zu jedem Menschen bleibt prinzipiell bestehen. Seine Geduld mit mir ist unendlich, und die Himmelstür bleibt unversperrt, selbst wenn ich sie ganz bewusst zuwerfe.
Diese unendliche Perspektive gebe uns allen neue Kraft, Geduld, Durchhaltevermögen, aber auch die Bereitschaft und den Mut, unsere endlichen Positionen immer wieder zu überprüfen und wenn nötig zu ändern. Anspruch auf Ewigkeit hat nur Gott. Aber genau deshalb kann ER uns grenzenlos treu bleiben, auch UNTER den Wolken.
Letzte Beobachtung zum Schluss: In den meisten Pfützen schwimmt nicht Benzin, sondern Gottes herrlicher Himmel spiegelt sich darin.
Pfarrer Martin Schuler